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Preisanpassungen erfolgreich managen

Der 24. Februar 2022 markiert einen Zeitenbruch und hat die Lage an den internationalen Strom- und Gasmärkten dramatisch verändert. Stadtwerken und Energieversorgern verbleibt nur noch wenig Zeit, die gewaltigen wirtschaftlichen Verwerfungen in eine verlässliche Risikoabschätzung für zukünftige Energielieferungen zu überführen. Dafür gilt es nicht nur, die eigene Energiebeschaffungs- und -vertriebsstrategie kritisch auf den Prüfstand zu stellen, Optimierungspotentiale zu erschließen und die strategische Positionierung nachhaltig im Beschaffungs- und Preisbildungsprozess zu verankern. Ebenso wichtig ist es, glaubwürdig und empathisch mit den schon heute verunsicherten Endkunden zu kommunizieren.

Es sei eine ganz andere Welt und er fühle sich seit einem halben Jahr wie ein Investmentbroker, beschrieb kürzlich in einer Podiumsdiskussion der Vorstandsvorsitzende eines großen norddeutschen Stadtwerkes die geradezu existentiellen Herausforderungen für seine Branche.

Noch vor wenigen Monaten galten die regionalen Energieversorger als ein verlässlicher Anker der Stabilität. Doch spätestens seit Beginn des Ukrainekrieges türmen sich immer neue politische und wirtschaftliche Krisen übereinander, die auch die Strom- und Gasmärkte unter Druck setzen.

Der „Unwucht im System“ auch kommunikativ begegnen

So vielschichtig und ineinander verwoben die Ursachen für die derzeit angespannte Marktlage und hohe Preisvolatilität auch sein mögen: Fakt ist, dass sich die Stadtwerke dieser gewaltigen „Unwucht im System“ mit aller Kraft entgegenstemmen müssen, um nicht selbst in eine existentiell bedrohliche finanzielle Schieflage zu geraten, die wiederum neue Unsicherheiten für die eigenen Kunden mit sich brächte. Doch es ist nicht allein die wirtschaftliche Ausnahmesituation, die die Stadtwerke beim Management der Preisanpassungen vor ungeahnte Herausforderungen stellt. Ebenso wichtig ist eine von Anfang an empathische, inhaltlich nachvollziehbare und ehrliche Kommunikation mit allen Kunden und weiteren Stakeholdern.

Das kommunikative Desaster um die Einführung und Abschaffung der Gasumlage lässt momentan viele Verbraucher ratlos zurück und ist ein beredtes Beispiel dafür, wie schnell Glaubwürdigkeit und langjähriges Vertrauen erschüttert werden können. Viele regionale Energiedienstleister lernen gerade, dass das Management teilweise existenzbedrohender Preiserhöhungen nicht nur die nüchternen Zahlen beinhalten darf, sondern auch Einfühlungsvermögen. Generell sind jetzt Lösungsorientiertheit und klare Kompetenzen in Krisenmanagement und -kommunikation erforderlich.

Märkte im Staccato-Modus setzen Energiebeschaffung und -vertrieb unter Druck 

Die Unsicherheit ist groß bei allen Beteiligten, wobei die geplanten Strom- und Gaspreisbremsen ein wenig Hoffnung auf zukünftig ruhigere Fahrwasser vermitteln. Mit dem Bericht der unabhängigen ExpertInnen-Kommission Gas und Wärme und dem Entwurf zum ERP-Wirtschaftsplangesetz 2023 ist dafür der rechtliche Rahmen geschaffen.

Im Zusammenhang mit den Themen Gasmangellage und Notfallplan Gas ist in nur wenigen Monaten eine Vielzahl neuer Gesetze und Gesetzesänderungen in Kraft getreten, die einen erheblichen Einfluss auf die Lieferverträge zu den Endkunden hat.

Hierzu gehören das Energiesicherungsgesetz (insbesondere §§ 24 ff. EnSiG) mit konkreten Mechanismen zur Kostenwälzung, das Gasspeichergesetz mit verbindlichen Vorgaben zur Erreichung von Mindestfüllständen sowie das Energiewirtschaftsgesetz (EnWG), dessen Novellierung u. a. eine Neuordnung der Grund- und Ersatzversorgung zum Ziel hat. Darüber hinaus wurden und werden vom Gesetzgeber flankierende Rechtsverordnungen erarbeitet, die präzise Handlungsleitlinien zur gesetzeskonformen Umsetzung geben sollen – eine  Wirtschaft in einer „Staccato-Phase“, wie es Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck im Frühjahr einmal nannte.

Doch nicht nur die politischen Rahmenbedingungen gestalten sich schwierig. Mit der russischen Invasion in der Ukraine ist der Energiemarkt zu einem Spielplatz knallhart kalkulierender Spekulanten geworden, wobei laut Habeck selbst befreundete Länder „Mondpreise“ erzielen und jede Solidarität vermissen lassen.

Angesichts dieser ungeheuren disruptiven Marktdynamik, mit der die Legislative kaum Schritt halten kann, stehen die operativen Energiebeschaffungs- und -vertriebsabteilungen gleich mehrfach unter Druck: Ihre typischen Vorlieferanten, die in der Vergangenheit stets zuverlässig die notwendige Mengenflexibilität zur Verfügung gestellt haben, bieten diese Produkte nunmehr weitgehend nicht mehr an oder können nur noch vereinzelt mit deutlich eingeschränkten Flexibilitäten und zu einem vollkommen anderen Preisniveau liefern.

Darüber hinaus ergibt sich – wie zuletzt mit der Abschaffung der Gasumlage – ein erhöhter administrativer Aufwand, da beunruhigte Endkunden verstärkt die Servicecenter kontaktieren und Preise sowie Abschläge angepasst werden müssen. Und auch die Zahl derer, die ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen können, wird deutlich steigen, was erhebliche Herausforderungen für das Forderungsmanagement und die eigene wirtschaftliche Stabilität nach sich zieht. Viele Stadtwerke kalkulieren hier schon heute mit 5 bis 10 % Forderungsausfällen – gegenüber bisherigen Werten von unter 1 %, wobei die Auswirkungen der Strom- und Gaspreisdeckel noch nicht abschließend bewertbar sind.

Sehr enges Zeitfenster zur effektiven Umsetzung

All das ist ein Wettlauf mit der Zeit, weil nach und nach immer mehr fossile Energieträger – Gas, Strom, Holz, Öl – in den Sog steigender Großhandelspreise geraten. Dadurch werden sich immer neue, exponentiell steigende Mehrkosten in der Energiebeschaffung aufeinandertürmen, die die heutigen Geschäftsmodelle in ihrer Substanz gefährden und gegenwärtig noch nicht ausreichend durch grüne Zukunftsenergien ausgeglichen werden können. In einem ohnehin angespannten, sich gefühlt in Lichtgeschwindigkeit verändernden Marktumfeld verbleibt den regionalen Energiedienstleistern daher nur ein sehr enges Zeitfenster zur effektiven Umsetzung und glaubwürdigen Kommunikation an ihre schon heute verunsicherten Endkunden.

Dass das Konsumklima seit Kriegsbeginn deutlich eingetrübt ist, spüren die Verbraucher, der Handel und das Hotel- und Gastgewerbe schon heute unmittelbar. Nach einer aktuellen Studie möchte (oder muss) rund jeder zweite Bundesbürger (47 %) seine alltäglichen Konsumausgaben in der kommenden Zeit deutlich einschränken und weniger bzw. preisbewusster einkaufen. Bereits jetzt übersteigen unerwartete größere Ausgaben bei fast einem Drittel der deutschen Bevölkerung die eigenen Finanzmittel. Rund 32 % hierzulande waren nach Angaben des Statistischen Bundesamtes schon 2021 nicht in der Lage, spontan 1.150 € oder mehr aus ihrem vorhandenen Budget zu stemmen – Tendenz steigend [1].

Auch bei den (häufig schon durch die Pandemie angeschlagenen) gewerblichen Kunden wird der Druck weiter zunehmen, was diese allerdings nur bedingt durch gezielte Einsparmaßnahmen kompensieren können. Man denke hier nur an die in ihrer Existenz bedrohten Bäckereien, Fleischereien, traditionellen Handwerksbetriebe und anderen mittelständischen Unternehmen, die als Rückgrat der deutschen Wirtschaft immer mehr an die Grenzen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gebracht werden.

Und auch die Lieferanten werden ihre Geschäftsmodelle anpassen und sich in definierte Vertriebsgebiete und auf bestimmte Kundensegmente zurückziehen. Ein (durchaus positiver) Effekt dessen wird sein, dass sich die Verbraucher wieder zunehmend ihren vertrauten, regional verwurzelten Anbietern zuwenden.

Marktveränderungen in eine verlässliche Risikoabschätzung überführen

Wie auch immer sich die Märkte entwickeln werden: Die Stadtwerke müssen alle gesetzlichen Anforderungen so professionell und souverän wie nur möglich umsetzen und damit nicht zuletzt auch die politischen Versäumnisse der letzten Jahrzehnte in ihrem operativen Tagesgeschäft ausgleichen.

Eine besondere Herausforderung besteht dabei darin, die disruptiven Marktveränderungen in eine verlässliche Risikoabschätzung für künftige Energielieferungen zu überführen. Dabei spielen das Beschaffungsmodell und die bislang realisierten Beschaffungsvorgänge eine wesentliche Rolle (siehe "Beschaffungs- und Vertriebsrisiken").

Strategische Positionierung auch im Beschaffungs- und Preisbildungsprozess verankern

Kleine und mittelgroße Stadtwerke und kommunale Energieversorger sind also gut beraten, ihre Energiebeschaffungs- und -vertriebsstrategie schnellstmöglich kritisch auf den Prüfstand zu stellen.

Das beinhaltet nicht nur eine bedarfsgerechte Strukturierung der Kundenportfolios, sondern auch die Entwicklung und Umsetzung einer krisenresistenten Beschaffungsstrategie (Risikoneigung, Beschaffungsprodukte, Vorgehen, Portfolio- und Marktanalyse, Berichtswesen, Risiko-Controlling) sowie ein zukunftssicheres vertriebliches Pricing (Aufschläge, Deckungsbeiträge, Ergebnissicherung).

Initial sollten sich die EVU in diesem Zusammenhang auf die folgenden vier Handlungsfelder fokussieren:

  • Ermittlung angemessener Aufschläge für Preis- und Mengenrisiken vor dem Hintergrund der anstehenden Preisanpassungen im Kleinkundensegment;
  • Bewertung der bisherigen Vertriebskalkulationen im Individualkundensegment unter Risikoaspekten;
  • Vorbereitung regelmäßiger Preisanpassungen bei der künftigen Ersatzversorgung sowie
  • Ausrichtung der Beschaffungsmodelle im aktuellen Marktumfeld.

Unabhängige Beratungs- und Dienstleistungsunternehmen wie die EnergieMarkt Beratungsgesellschaft mbH (emb) stehen den EVU bei der systematischen Strukturierung und Optimierung individuell zur Seite (siehe "Themenlandkarte Energiehandel").

Tarifsegmentierung eröffnet neue Handlungsspielräume

Wie sehr in der derzeitigen Energiekrise die Beschaffungs- und Vertriebsstrategie miteinander verwoben sind, lässt sich am Beispiel der Tarifsegmentierung gut nachvollziehen. Es empfiehlt sich, die wechselseitige Beziehung von Vertrieb und Beschaffung objektiv zu analysieren und ggf. neu zu justieren. Durch das Heben bislang ungenutzter Potentiale können schon kurzfristig neue Handlungsspielräume eröffnet werden, die nachhaltig die wirtschaftliche Resilienz der EVU stärken.

Bei der Entwicklung und Umsetzung einer geeigneten Beschaffungs- und Vertriebsstrategie aus identifizierten Kundensegmenten sollten vier Fragen im Mittelpunkt stehen: Welche Kunden passen in die strategische Ausrichtung? Welche Beschaffungsstrategien sind geeignet? Wie werden diese umgesetzt? Wie sind Tarifierung und Pricing umzusetzen?

Grundlage all dessen ist die systematische Segmentierung spezifischer Kundengruppen. Beispielsweise ist das Sondervertragskundengeschäft gegenüber dem klassischen Massenkundengeschäft einfacher zu regeln, auch ist es im Vergleich zum Großkundengeschäft oft aufwändiger, eine geeignete Beschaffungsstrategie für das Tarifkundensegment zu entwickeln. Hier besteht in vielen EVU durchaus noch Handlungsbedarf, eine solche Differenzierung vorzunehmen.

Auf Basis dieser Erhebungen kann unter Berücksichtigung der Risikoneigung des Versorgers eine adäquate Beschaffungsstrategie definiert und umgesetzt werden. Sie bildet die Grundlage für das Pricing der Vertriebsprodukte und kann den einzelnen identifizierten Kundensegmenten zugewiesen werden. Damit wird die strategische Positionierung des Unternehmens auch im vertrieblichen Preisbildungsprozess umgesetzt (siehe "Prinzip Segmentierung").

360-Grad-Sicht auf die Wechselwirkungen von Beschaffung und Vertrieb

Die Organisationseinheiten eines Energieversorgers sind durch ein komplexes Konstrukt vieler Prozesse miteinander verknüpft. Die methodische Erschließung von Optimierungspotentialen im Vertrieb erfordert daher eine ganzheitliche, 360-Grad-Sicht auf dessen Wechselwirkungen mit anderen Unternehmensbereichen. Beratungsgesellschaften wie die emb unterstützen dabei, Schwachstellen in Prozessabläufen zu identifizieren, geeignete Maßnahmen zur Prozessverbesserung zu definieren, nicht eindeutig geregelte Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten zu klären und den Mitarbeitern ein motivierendes, produktives Arbeitsumfeld zu schaffen.

Von zentraler Bedeutung ist es, dass das Prozessmodell von Anfang an an der Wertschöpfungskette des Vertriebs orientiert ist und bereits in der Basisanalyse Prozesse, Organisationsstrukturen und mögliche Verbesserungspotentiale erfasst werden. Die Stadtwerke sollten dafür alle Mitarbeiter frühzeitig mit ins Boot nehmen und mit der erforderlichen Sensibilität und Glaubwürdigkeit mit ihren Kunden und Stakeholdern kommunizieren.

Finanzierungsdruck und Transformationsbedarf: Stadtwerke sind krisenfest aufgestellt

Auch wenn es keine Blaupause für die aktuellen dramatischen Entwicklungen gibt: Die Stadtwerke haben das Potential, gestärkt aus allen disruptiven Veränderungen hervorzugehen. Profitieren können sie dabei nicht nur von ihrem über Jahre aufgebauten, soliden Fundament – einer gesunden, professionellen Unternehmensorganisation, engagierten Mitarbeitern, einem profunden Branchen-Know-how und verlässlichen Kooperationsnetzwerken.

Gerade die letzten Jahre mit ihren für sich schon gewaltigen Herausforderungen in den Handlungsfeldern Dekarbonisierung, Digitalisierung und Datensicherheit haben gezeigt, dass die Stadtwerke den Spagat zwischen Finanzierungsdruck und Transformationsbedarf erfolgreich meistern können und sich zukunftsstark als Dienstleister und Wegbereiter aufgestellt haben. Genau diese Resilienz, Flexibilität und Innovationskraft sind nicht zu unterschätzende Pluspunkte für das Management noch nie dagewesener Preisanpassungen.

Quellen

[1] www.markenartikel-magazin.de/_rubric/detail.php und www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/10/PD22_N062_63.html

Ansprechpartner für Energiehandel und -vertrieb sind Norbert Thewes und Martin Wurm.

Pressekontakt
Dr. Schäfer PR- und Strategieberatung
Dr. Anke Schäfer
Arno-Esch-Str. 1
18055 Rostock
Telefon: +49 381 666 58 58
E-Mail: info[at]dr-schaefer-pr.de

(Der Bericht ist auch erschienen in der Print- und Onlineausgabe 12-2020 der "et -ENERGIEWIRTSCHAFTLICHE TAGESFRAGEN".)